Am 27. März besuchten interessierte Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 10 und 11 die Leipziger Buchmesse. Vor Ort fand unter anderem die Preisverleihung des Publikumspreises der Jungen Literaturhäuser statt. Neben einer Online-Abstimmung, bei der die Leserinnen und Leser einige Wochen zuvor ihre Stimme für eines von drei nominierten Büchern abgeben konnten, gab es auch eine Jury, die sich aus neun Schulklassen aus ganz Deutschland zusammensetzte. Innerhalb des Deutschunterrichts beschäftigte sich jede Klasse intensiv mit den nominierten Büchern und wählte am Ende jeweils einen Favoriten. Zwei der Jury-Klassen waren bei der Preisverleihung anwesend und berichteten begeistert von den gelesenen Büchern. Ein starker Kontrast zu dem ansonsten eher schlechten Image der Schullektüre. Wie viel an dieser Wahrnehmung tatsächlich dran ist und was sich in Zukunft ändern muss – darüber habe ich mit einer der drei nominierten Autorinnen, der Jugendbuchautorin Kathrin Schrocke, gesprochen.
Mindgrün: Sie sind Autorin und schreiben Bücher für Kinder und Jugendliche. Warum ist es Ihnen
besonders wichtig, gerade diese Zielgruppe zu erreichen?
Kathrin Schrocke: Inzwischen schreibe ich ja vor allem Bücher für Jugendliche, also junge Erwachsene. Das
ist für mich nach wie vor die wichtigste Lebensphase in der menschlichen Zeitspanne, einfach weil man sich in der Zeit vom Elternhaus abnabelt, sich eine eigene Peergroup sucht und eine eigene Identität entwickelt, losgelöst vom Zuhause. Natürlich ist man geprägt, aber es ist ganz entscheidend, welchen Einflüssen man ausgesetzt ist und mit welchen Menschen man abhängt. In dieser Lebensphase werden ganz viele Weichen für die Zukunft gestellt. Es fasziniert mich total, dass man in dieser sensiblen Zeit eine eigene Haltung entwickelt, je nachdem, womit man konfrontiert wird. Ich finde es total spannend, meine Themen und Gedanken in den Raum zu werfen und damit vielleicht Jugendliche auf eine gewisse Art und Weise zum Denken anzuregen und vielleicht auch eine Weiche zu stellen.
Sie sind viel an Schulen unterwegs und geben dort Lesungen. Wie hoch schätzen Sie momentan das
Leseinteresse bei Schülerinnen und Schülern ein?
Das ist im Jugendalter quasi nicht vorhanden. Es gibt ganz wenige Jugendliche, die angeben, dass sie in
ihrer Freizeit gerne lesen. Im Deutschunterricht müssen dann natürlich alle eine Klassenlektüre lesen, aber
die wenigsten würden sagen, dass sie gerne freiwillig lesen. Wir haben wirklich nur eine minimale Zielgruppe und das macht es für uns Autoren und Autorinnen natürlich umso herausfordernder. Im Grunde lesen wir vor einem Publikum, das erstmal null Bock auf Bücher hat. Das heißt, es geht nicht nur darum, dass wir gut vorlesen und für die Geschichten begeistern. Wir müssen es auch schaffen, unser Publikum davon zu überzeugen, dass Bücher alles andere als langweilig sein können.
Sie haben es gerade schon angesprochen: Ein wichtiger Berührungspunkt mit Büchern entsteht vor
allem im Deutschunterricht. Inwiefern beeinflusst die Schullektüre das Interesse am Lesen?
Es gibt viele Studien, die zeigen, dass Schullektüre – zumindest war das in der Vergangenheit so – ganz oft nicht gelesen wird. Es sind eher die lesebegeisterten, „nerdigen“ Teenager, die sich auf die Schullektüre freuen und sie tatsächlich auch lesen. Aber die meisten, und ich denke, das ist auch nach wie vor so, lassen sich eine Zusammenfassung geben und lesen die Lektüre nicht. Insofern ist es auch gar nicht das Ziel von uns Autorinnen und Autoren, eine klassische Schullektüre zu schreiben. Wir wollen natürlich freiwillig gelesen werden. Was sich in den letzten Jahren aber schon geändert hat, ist, dass Lehrkräfte zunehmend aktuelle Themen aus der Teenagerwelt als Schullektüre wählen. Das war bis vor ein paar Jahren noch nicht so. Da gab es einen Kanon an Büchern, die immer wieder und wieder gelesen wurden, die viele Jugendliche aber gar nicht erreicht haben. Ich bekomme häufig E-Mails von Teenagern, die mein Buch in der Klasse lesen und mir dann schreiben, dass sie es großartig finden, über ein Thema ihrer eigenen Lebensrealität zu lesen, mit dem sie sich gut identifizieren können.
In Brandenburg gibt es für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 keine im Lehrplan festgelegte Pflichtlektüre.
Würde ein größeres Mitbestimmungsrecht bei der Wahl der Schullektüre zu einer höheren
Lesemotivation beitragen?
Absolut – davon bin ich überzeugt. Ich finde, dass Jugendliche mitgenommen werden müssen. Also dass
nicht die Lehrkraft über ihre Köpfe hinweg die Lektüre auswählt, sondern dass man gemeinsam entscheidet: Womit wollen wir uns befassen? Was wollen wir gemeinsam lesen? Das finde ich einen großartigen Weg, weiß allerdings nicht, inwiefern das an den Schulen umsetzbar ist. Zusätzlich begegnet es mir häufig, dass auf dem Markt zum Beispiel Preise für Jugendliteratur vergeben werden, aber gar keine Jugendlichen in der Jury sitzen. Die Zielgruppe darf gar nicht mitentscheiden, welches Buch preiswürdig ist. Deswegen finde ich es gerade bei der Schullektüre sehr wichtig, dass die Meinung von Jugendlichen gehört wird. Denn es hat auch etwas Arrogantes oder Abfälliges, wenn man so tut, als könnten junge Menschen nicht für sich entscheiden – als würden sie dann automatisch etwas Anspruchsloses wählen, das sozusagen nicht das Niveau einer Schullektüre erreicht. Das finde ich eine ziemlich arrogante Haltung. Wie sinnvoll ist es generell, dass die ganze Klasse die gleiche Lektüre liest? Das finde ich eine spannende Frage. In einer idealen LeserInnen-Welt wäre es tatsächlich so, dass verschiedene Bücher gelesen werden und man sich gegenseitig die Bücher vorstellt. Es gibt viele
Untersuchungen, die zeigen – und ich weiß es auch aus persönlichen Gesprächen –, dass Schullektüren
manchmal dazu führen, dass Menschen endgültig die Lust am Buch verlieren. Die Schullektüre ist also das
letzte Buch, das sie in ihrer LeserInnen Biografie gelesen haben. Und danach reicht es ihnen, sodass sie nie wieder ein Buch anfassen. Wenn das das Ergebnis ist, dann ist das total bitter.
An meiner Schule werden im Deutschunterricht der 10. Klasse Goethes „Faust“ und Patrick Süskinds „Das Parfum“ gelesen. Viele meiner Mitschülerinnen und Mitschüler kritisieren, dass ihnen zum einen der Bezug zu den Themen und vor allem das nötige Hintergrundwissen fehlt, um gerade ältere Werke verstehen und einordnen zu können. Ist es überhaupt noch zeitgemäß, diese oder ähnliche Werke weiterhin im Deutschunterricht zu lesen?
Darüber kann man streiten. Ich unterhalte mich oft mit anderen Erwachsenen darüber, wie sinnvoll das ist,
und höre häufig das Argument, dass jemand, der nicht viel und gern liest, sonst niemals dazu kommen
würde, zum Beispiel Goethe zu lesen. Es gehört aber einfach zu einer guten Bildung dazu, dass man
bestimmte Klassiker einmal gelesen oder diskutiert hat. Da ist wahrscheinlich auch etwas Wahres dran. Auf der anderen Seite habe ich während meines Literaturwissenschaftsstudiums – als ich viele der Klassiker aus der Schulzeit noch einmal gelesen habe – festgestellt, dass ich erst ab dem Studienalter die nötige Reife und minimale Lebenserfahrung hatte, um diese Werke in Gänze begreifen zu können. Deshalb frage ich mich, ob man im Jugendalter wirklich schon so weit ist und mit diesen Büchern etwas anfangen kann. Gleichzeitig verstehe ich das Argument, dass sich sonst eine Tür schließt und wir dann vielleicht in einer Gesellschaft leben, in der die Mehrheit der Menschen niemals etwas von Goethe gelesen hat. Das fände ich auch irgendwie befremdlich. Aber ich habe keine endgültige Antwort auf diese Frage.
Was denken Sie, inwiefern spielt dabei die noch recht weit verbreitete Annahme, Jugendromane
seien keine „richtige Literatur“, eine Rolle?
Das ist ein ganz großes Thema bei der Frage, was als Schullektüre ausgewählt wird. In den letzten Jahren
hat sich das zwar zum Glück schon etwas geändert, aber ich kann mich erinnern, dass es zu meiner
Schulzeit noch undenkbar gewesen wäre, einen Jugendroman im Deutschunterricht zu lesen. Gerade im
Gymnasium waren Jugendromane als Klassenlektüre ein absolutes No-Go. Es war klar: Jugendliteratur ist
keine richtige Literatur – sie ist irgendwie zu simpel, zu schlicht, zu einfach. Das hat sich heute zum Glück
geändert. Man hat zum einen erkannt, dass Jugendliteratur sehr anspruchsvoll sein kann, und zum anderen durch die Nähe zu den Schülerinnen und Schülern auch die Chance hat, zumindest von einigen gelesen zu werden. Tatsächlich wäre es zum Beispiel spannend, einen Preis speziell für Schullektüre zu initiieren. Das fände ich sehr interessant, denn soweit ich weiß, gibt es bisher kein Portal dafür. Vielleicht auf den sozialen Medien, fällt mir gerade ein. Auf Instagram gibt es einige Lehrkräfte, die Inhalte speziell zum Thema Schullektüre posten. Benni Cullen ist zum Beispiel einer der Bekanntesten, der die Bücher nicht nur vorstellt, sondern auch Unterrichtskonzepte dazu präsentiert. Er ist selber Lehrer, weiß also, wovon er spricht, und begeistert damit andere LeserInnen.
Inwiefern beeinflussen die aktuellen Entwicklungen auf den sozialen Medien das Leserinteresse von
Jugendlichen?
Ich glaube, das hat sehr viel verändert. Bis vor ein paar Jahren wurde uns JugendbuchautorInnen noch
prophezeit, die Zukunft sähe ganz düster aus: Jugendliche würden nicht mehr lesen und uns breche die
Zielgruppe weg. Insbesondere TikTok hat das aber total verändert. Es gibt immer wieder Bücher, die sehr
gehypt werden, meist von jungen Influencerinnen und Influencern auf Instagram und TikTok. Das hat das
Buch enorm aufgewertet und spannender gemacht. Bevor ich zur Messe gefahren bin, habe ich gelesen,
dass der Umsatz der Buchbranche letztes Jahr um 0,8 Prozent angestiegen sei. Von jemandem aus der
Verlagsbranche weiß ich, dass das vor allem an Young- und New-Adult-Büchern liegt, also vor allem an
Romanen für Jugendliche. Das finde ich beachtlich.
Haben Sie zum Abschluss noch eine Buchempfehlung für den Deutschunterricht? Welches Buch
sollten alle während ihrer Schullaufbahn einmal gelesen haben?
Das finde ich spontan gar nicht so leicht zu beantworten. Ich war gerade auf der Verleihungsveranstaltung
für den „Preis der Jungen Literaturhäuser“. Dort war auch eine Kollegin nominiert, die eine Graphic Novel
veröffentlicht hat. Ich bekomme häufig mit, dass viele Erwachsene Vorbehalte gegenüber Comics und
Graphic Novels haben. Ich selbst hatte einige meiner großartigsten Leserinnen-Erfahrungen mit Graphic
Novels. Da gibt es ganz herausragende Bücher. Gerade für Jugendliche, die Probleme mit dem Lesen
haben, kann das ein toller Einstieg sein.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Ich bedanke mich auch.